Die Explosion, die keine war

Ab den 1950er-Jahren ging es steil aufwärts: Mit der medizinischen Entwicklung, aber auch mit den Kosten im Gesundheitswesen. Die Helvetia rang nach Lösungen.

«Unser Wanderer zaudert keinen Moment. Im Hinblick auf die bisher erfolgreich zurückgelegte Wegstrecke, die gemachten Erfahrungen, die gute Ausrüstung und die vorhandene ansehnliche Wegzehrung nimmt er seinen Rucksack auf, fasst den Stock fester und setzt seinen Weg bestimmt und zuversichtlich fort.» Mit diesen Worten schloss Zentralpräsident Otto Huber im Jahr 1976 seine Betrachtungen zur «Kostenexplosion» im Gesundheitswesen. Seinen Worten ist klar zu entnehmen, dass er versucht, Zuversicht zu verströmen in einem für die Krankenkassen schwierigen Umfeld.

Der Begriff der «Kostenexplosion» im Gesundheitswesen «bedeutete zunächst, dass die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen spätestens seit den 1950er-Jahren schneller voranschritt als das Wirtschaftswachstum », schreibt das Bundesamt für Sozialversicherungen. Im Rückblick handelt es sich weniger um eine Explosion als um eine «eher langsame, über Jahrzehnte andauernde Entwicklung».

In den Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg leistete sich die Schweiz ein gutes und teures Gesundheitswesen. Die Kantone bauten Spitäler und die medizinischen Dienstleistungen aus, Prävention und Therapiemöglichkeiten – man denke an die Lähmungszentren und die Klimastation – wurden mehr und besser. Der Anteil der Gesundheitskosten am BIP stieg gemäss BSV von 5 Prozent um 1960 auf 7 Prozent in den 1980er-Jahren.

Doch Mitte der 1970er-Jahre rutschte die Weltwirtschaft in eine Rezession. Der Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods im März und die Erdölkrise im Herbst 1973 stürzten auch die Schweizer Wirtschaft in eine Krise. Bis 1977 ging das Bruttosozialprodukt um fünf bis sieben Prozent zurück.

Die sinkenden Einkommen und die zunehmend unsicheren Arbeitsverhältnisse hatten tiefere Steuereinnahmen beim Bund zur Folge. Um die Bundeskasse zu entlasten, kürzte der Bundesrat die Subventionen an die Krankenkassen in den Jahren 1975 und 1976 linear um zehn Prozent. Otto Huber stellte fest: «Nun jedoch, nachdem der Bund im Wettrennen mit den davongaloppierenden Krankenpflegekosten nicht mehr nachkommt und seine Beiträge an die Krankenkassen kürzen muss, beginnt die Lage ernst zu werden.»

1968 schon Thema in der Mitgliederzeitung der Helvetia: Die Last der Gesundheitskosten.

Die Helvetia begann, nach Kosteneinsparungen einerseits und zusätzlichen Finanzierungsmöglichkeiten andererseits zu suchen. Man dürfe sich auch «nicht scheuen, so Otto Huber, die Frage der Effizienz der Leistungen zu überprüfen». Die Krankenkasse nahm sich dabei selbst genauso in die Pflicht wie die Leistungserbringer – Ärzteschaft, Spitäler, Physiotherapie – sowie Patientinnen und Patienten.

Für die Kostenexplosion «ebenso mitverantwortlich ist die moderne Verbraucher-Gesellschaft, die sich immer mehr von den irdischen Werten entfernt», mahnte Spartaco Laffranchini, Präsident der Tessiner Ärztegesellschaft, 1978 in der Helvetia-Kundenzeitschrift. «Aber nicht zuletzt ist auch der Patient mitschuldig», wenn dieser «viele Ärzte (sogar Kurpfuscher) aufsucht und mehr Medikamente konsumiert als nötig wäre!»

Die Sparbemühungen zeigten kurzzeitig Wirkung: Ende der 1970er-Jahre konnte die Helvetia eine Verflachung des Kostenanstiegs registrieren und konstatierte: «Kostenexplosion gebremst, aber noch nicht gestoppt; es bedarf weiterer Anstrengungen. » Doch die Achtzigerjahre brachten sehr bald wieder Ernüchterung, laut Jahresbericht von 1983 musste die Helvetia 10,4 Prozent mehr für die Krankenpflegeversicherung aufwenden, bei einer Steigerung der Lebenskosten «um durchschnittlich 2,9 Prozent», wie sie schrieb.

Die Kostentreiber waren in den Augen der Krankenkasse das «Überangebot an Gütern und Leistungen unseres Gesundheitswesens », die weltweit höchste Ärztedichte sowie der Überschuss an Akutbetten in den Spitälern; «dies bei gleichzeitigem Mangel an Betten für Chronischkranke, so dass zahlreiche dieser Patienten in teuren Akutbetten gepflegt werden». Selbst ein leer stehendes Spitalbett koste mehr als die Hälfte eines belegten, kritisierte die Helvetia.

Unter diesem Druck beschloss das Konkordat der schweizerischen Krankenkassen, selbst das Zepter in die Hand zu nehmen und eine Volksinitiative einzureichen. Die Helvetia beteiligte sich intensiv am Sammeln der Unterschriften, unter dem Motto «Es wird nicht mehr gejammert, sondern gehandelt». Das Volksbegehren wurde am 30. April 1985 eingereicht – mit einem Rekordresultat von über 400'000 Unterschriften und nach einer Rekordzeit von einem halben Jahr.

Wie praktisch alle Revisionsbemühungen im schweizerischen Gesundheitswesen des 20. Jahrhunderts scheiterte die Initiative aber 1992 an der Urne. Wenigstens in einem Punkt war man sich danach einig: Es braucht dringend eine Totalrevision der Krankenversicherung, auch um die «Kostenexplosion» in den Griff zu bekommen. Diese Revision sollte bekanntlich 1994 endlich gelingen.

1974: Die stark steigenden Krankenpflegekosten pro Mitglied und Jahr.

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