Ein «schwerer Schritt war es», schrieb Zentralpräsident Hermann Meier, als er auf das Jahr 1918 zurückblickte, «die letzten Obligationen dem Tresor zu entnehmen und sie für auszuzahlende Krankengelder belehnen zu lassen». Die Spanische Grippe, diese verheerende Seuche, hatte die Helvetia hart getroffen. Auf 900'000 Franken beliefen sich die Ausgaben der Krankenkasse für die Grippe, der Reservefonds war fast vollständig aufgezehrt. Die Sektionen hatten Hunderte, die Schweiz Tausende von Toten zu verzeichnen.
Gekommen war sie von der Grenze, von Soldaten, die die Armee zur Landesverteidigung mobilisiert hatte. Die Enge der Truppen in Kasernen und Schützengräben begünstigte die Ausbreitung. Vermutlich durch US-Soldaten – Militärkoch Albert Gitchell ging später als Patient Null in die Medizingeschichte ein – nach Europa eingeschleppt, brach die Epidemie Ende Juni 1918 auch hierzulande aus.
«Oft mussten wir in die Apotheke springen, um schnell wieder eine Sauerstoffbombe zu holen für den langsam erstickenden Aregger. Etwas so Entsetzliches habe ich nie gesehen. Steif lag er in seinem Bette, hatte den Mund unnatürlich weit aufgerissen, purpurrote Wangen und eine schweissbedeckte Stirne»: So schilderte gemäss «NZZ» der Kantonsschüler Eduard Seiler im November 1918 in seinem Tagebuch, wie er in der Stadt Zürich Soldaten pflegte, die an der Spanischen Grippe erkrankt waren.
Bei der Bekämpfung der Krankheit gab es ein Problem: Die Grippe war zwar als Krankheit bekannt, aber ihre Ursache, das Influenzavirus, nicht. Man ging damals noch von bakteriellen Erregern aus. Ausserdem galt die Grippe nicht als gefährlich. «Durchgehend wird diese Krankheit als gutartig bezeichnet», schrieb etwa die Zeitung «Neue Zürcher Nachrichten » am 5. Juli.
In der Krankenkassenzeitung wird die Spanische Grippe zum ersten Mal am 1. August erwähnt: «Die Grippe fordert auch von uns gewaltige Opfer. Schon weit über 2000 Krankmeldungen mit der Bezeichnung ‹Grippe›, ‹Spanische›, ‹Influenza› sind innert kurzer Zeit eingegangen – wie viele werden noch folgen?» Es folgten eine Reihe von «Verhaltensmassnahmen gegen die Grippe», die Oberbahnarzt Jacek Michalski für die Bundesbahnen erstellt hatte. «Die ansteckende Krankheit, die gegenwärtig in der ganzen Schweiz sich verbreitet hat, ist nichts anderes als die gewöhnliche Influenza oder Grippe, die alljährlich in bescheidenem Rahmen auftritt. Die Gerüchte, dass es sich um eine pestähnliche Krankheit handle, entsprechen den Tatsachen nicht.» Michalski riet, niemals die Taschentücher eines Kranken zu benutzen, von Schnapsgenuss abzusehen und vor allem solle man sich nicht beunruhigen, «weil Aufregung die Widerstandsfähigkeit des Körpers schwächt». Die Helvetia fügte noch an, es seien «Krankenbesuche bei an Grippe erkrankten Personen zu unterlassen, um die Weiterverbreitung der Krankheit möglichst zu verhüten».
Die Seuche wütete erbarmungslos. Die Reaktion der Behörden beschränkte sich zu Beginn auf Massnahmen der öffentlichen Ordnung. Am 18. Juli 1918 übertrug der Bundesrat den Kantonen per Notverordnung das Recht, Versammlungen und Demonstrationen zu verbieten. Erst im Herbst griffen die Gesundheitsbehörden entschlossener ein, verordneten die Schliessung von Schulen, Kinos, Märkten und die Isolation von Patienten.
Die Helvetia stand am Rande des Abgrunds. Im Oktober 1918 vermeldete die Krankenkassenzeitung: «Unheimlich gingen und gehen jetzt noch die Geldbegehren ein und es gab Tage, wo über 10'000 Franken Zuschüsse an die Sektionen gemacht werden mussten.» Man habe die Banken um einen Kredit von 220'000 Franken nachgesucht.
Die Ratschläge zur Bekämpfung der Spanischen Grippe hatten jetzt einen anderen Ton angenommen. «Einen bösartigen Charakter» habe die Seuche, hiess es im Verbandsorgan. Man müsse sich und andere vor der Ansteckung bewahren. «Ansammlungen von Menschen, besonders in engen Räumen, wie Tram und Bahnwagen, begünstigen die Ausbreitung der Krankheit.» Es wurde empfohlen, die Hände gründlich mit Seife zu waschen und «Kranke sollen beim Husten und Niessen absolut stets das Taschentuch vorhalten, sonst machen sie sich unter Umständen der fahrlässigen Gefährdung von Menschenleben schuldig. Solchen Unvorsichtigen gehört jedesmal eine kräftige Maulschelle.»